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Theorien zur Religionsentwicklung

Evolutions-, Dekadenz- und Diffusions-Theorien

Beide religionswissenschaftlichen Versuche, die Entwicklung von Religionen in ein kategorisches Verständnis zu bringen, arbeiten mit der Annahme einer gleichartigen Entwicklung der Menschheitsgeschichte und einer gleichartigen Strukturierung aller Menschen. Die Religionswissenschaft ist in diesem Rahmen ein Produkt des abendländlichen Denkens und somit auch durch christliche Denkmuster geprägt. Im 19. Jhr. versuchte man damit den christlich-abendländlichen Menschen alte und andere Religionen zu erklären, was jedoch nur Verständnis erzeugen konnte, wenn es bekannte Sprachbegriffe verwendet. Dennoch versuchte die Religionswissenschaft eine distanzierte Haltung zu bewahren. Die Erklärungsmodelle dieser Wissenschaft entsprechen somit nur in geringem Ansatz dem persönlichen Verständnis eines gläubigen Menschen, selbst der (nicht theologisch gebildete) Christ würde seinen Glauben - sein Verständnis über seine Religion - in den religionswissenschaftlichen Modellen kaum wiederfinden. Die Rekonstruktionsversuche der Religionswissenschaften arbeiten daher auch mit Reduktionen und stark vereinfachten Sachbegriffen, um möglichst viele - oft sehr unterschiedliche - religiöse Ansätze in ein kategorisches Verständnis zu bringen.

I. ältere Evolutions-Theorien:
- Auguste Comte (1798-1857) sah eine schrittweise Entwicklung, bei der sich Religion zu Metaphysik entwickelt und sich Metaphysik zu Wissenschaft entwickelt (vgl. Hegel)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b3/Auguste_Comte.jpg


- "Animismus-Theorie":
Edward Burnett Tyler (1832-1917) meinte, dass die Grunderfahrungen des Menschen dualistisch sind, d.h., er erlebt die Realität und erlebt anderseits (bspw. im Traum) eine teils andere Wirklichkeit, bei der z.B. auch Tote wieder in Erscheinung treten. Daraus unterschied er eine Dualität zwischen dem Leiblichen (dem Realen) und dem Unleiblichen (der "Seele").

- James George Frazer (1854-1941) knüpft an Comte an und meint, das eigentliche Ziel des Menschen ist es, Macht über die Umwelt zu gewinnen:
1. mittels Magie und Zauber wurde versucht, die eigenen Bedürfnisse, sowie die Bedürfnisse der Gruppe, zu erzeugen. Bei Misserfolg wurden andere magische Mächte oder Zauberer verantwortlich gemacht.
2. Mit der Zeit erkannte der Mensch jedoch, das Magie und Zauber nichts bewirken und er machte übermenschliche, nicht durch Magie und Zauber kontrollierbare Mächte verantwortlich und ordnete sich diesen übermächtigen Kräften unter.  -> "Religion"
3. Durch die Entwicklung der Wissenschaften zu einem Instrument, mit dem man konkrete Macht über die Umwelt erlangen konnte, wurde Religion degradiert

Wie wir heute sehen, war dies nicht der Fall, trotz dessen, das die Wissenschaft immer mehr Macht über die Umwelt gewann, verschwanden die Religionen nicht.


II. Dekadenz-Theorien (Depravations-Theorien)
Sind teilweise älter, als die Evolutionstheorien und meinen, das kulturelle Entwicklung dazu tendiert, dass alles schlechter wird und man sich weiter vom Ursprünglichen (Positiven) entfernt.

- Andrew Lang (1844-1912) war ursprünglich Anhänger der Animismus-Theorie, stellte aber fest, dass viele "einfache" Kulturen dennoch Götter oder gar einen allmächtigen Schöpfer-Gott kennen, was die Evolutiuons-Theorien ins Wanken bringt. Er meinte, in der Annahme das es nur ein Grundprinzip gibt, das für alle Menschen gilt, dass der Glaube an einen Hochgott ursprünglicher ist und Magie usw. Sekundärentwicklungen sind, womit die ursprünglich reine Gottesverehrung verkam.


III. Diffusions-Theorien
Gehen davon aus, das sich Kulturen jeher gegenseitig beeinflussten und über Handel und gegenseitigen Austausch die jeweiligen Glaubensmodelle vermittelten, so das sich durch diesen kontinuierlichen Kulturkontakt und Kulturaustausch die offensichtlich scheinenden Parallelen verschiedener Religionen ergaben, wobei die jeweiligen Elemente durch den Austausch nicht unverändert übernommen wurden, sondern dem jeweiligen kulturellen Kontext angepasst wurden. Als Begründer dieser Theorie gilt Friedrich Ratzel (1844-1904).

Beispiel "Rosenkranz": sein Ursprung liegt in Indien, er wurde vom (mystischen) Islam adaptiert und kam im Mittelalter zum Christentum

- Wilhelm Schmidt (1868-1954) gilt als Begründer der "Wiener Schule", deren wichtiges Element die Rekonstruktion einer "Urkultur" (Kulturkreislehre) ist, welche durch Subtraktionsverfahren versucht wird zu ermitteln. Man versucht also heraus zu finden, was der kleinste, gemeinsame Nenner der Kulturen ist, die sich aus einer solchen "Urkultur" heraus entwickelt haben um Rückschlüsse über diese "Urkultur" selbst zu erhalten. Damit versuchte man Rückschlüsse über die "Urreligion" zu gewinnen. Schmidt war der Meinung, dabei auf einen "Urmonotheismus" zu stoßen. So sah man bei verschiedenen Pygmäenstämmen oder verschiedenen australischen Buschmänner-Gruppen  ein gleichartiges, höchstes Wesen. Bei anderen Stämmen ist dann jedoch eine "Verdunklung" des "Ur-Monotheismus" eingetreten, die teils durch Mischung mit anderen Formen und teils durch Abspaltung entstand und somit eine Abkehr vom "ursprünglichen Monotheismus" darstellte.

Kritik an dieser Annahme: das von der "Ur-Monotheismus"-Theorie angenommene höchste Wesen hatten/haben viele Kulturen nicht in einem derart abgehobenem Stellenwert und dieses Wesen wurde teils nicht als übermächtiger Gott oder Persönlichkeit verstanden.
Die "Ur-Monotheismus"-Theorie ist heute nicht mehr aktuell.


IV. neue Evolutions-Theorien
Diesen fehlt nun der optimistische Charakter, das alles besser wird und Religion schlussendlich durch die Wissenschaft abgesetzt wird. Vertreter sind Robert N. Bellah, Rainer Döbert, Niklas Luhmann u.a.

- Robert N. Bellah (1927-2013)
1. primitive Religionen: 
das Symbolsystem ist unscharf, höhere Wesen sind vom Menschen nur graduell unterschieden, keine spezielle religiöse Organisation ist ausdifferenziert

2. archaische Religion:
schärfer Differenzierung der höheren Wesen ( -> Polytheismus), das religiöse Handeln ist genau normiert, die Kommunikation zwischen den höheren Wesen und dem Mensch ist klarer strukturiert

3. historische Religion:
Harmonie zwischen der im Symbolsystem dargestellten Welt und der Lebenswelt zerbricht allmählich, die Heilswirklichkeit steht gegenüber der empirischen Wirklichkeit, es kommt zu Erlöserreligionen (bspw. katholisches Christentum), es kommt zu einer Transzendierung der höheren Wesen, religiöses Handeln ist auf Heilsgewinn aus, es entsteht eine Differenzierung der Gesellschaft abseits der religiösen Eliten 

4. frühmoderne Religion: (ab Protestantismus)
Anstelle der hierarchisch vermittelten Beziehung zwischen Mensch und Transzendenz (Gott) tritt eine Direktheit des Gegenübers zwischen Mensch und Transzendenz ein, es kommt zu weiteren gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen, der Mensch kann das Selbst nun zwischen Erlösung und Sünde akzeptieren

5. moderne Religion: 
Das Symbolsystem wird noch vielfältiger und verliert seine Allgemeinverbindlichkeit, der Mensch akzeptiert sein Selbst in all seiner Unzulänglichkeit, religiöses Handeln ist nicht mehr auf klar definierte Normen ausgerichtet, jeder ist religiös autonom



Quellen:- Fritz Stolz: "Grundzüge der Religionswissenschaft"

- https://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Comte
- https://en.wikipedia.org/wiki/Edward_Burnett_Tylor
- https://en.wikipedia.org/wiki/James_George_Frazer
- https://de.wikipedia.org/wiki/Andrew_Lang
- https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Schmidt_(Ethnologe)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_N._Bellah

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