Obwohl Schrift in Mesopotamien zunächst für wirtschaftliche Zwecke entstand, entwickelte sie schnell ein Eigenleben und bezog sich auf weitere Bereiche. Es entstanden Königsschriften, die Ansätze der Geschichtsschreibung waren. Weisheiten und Sprichwörter, die als Schreibübungen dienten, vermittelten Bildung und Ethik. Das Niederschreiben religiöser Texte entwickelte eine Reflexion über die Religion, Wortlisten im bilingualen Raum (sumerisch/akkadisch) explizierten das in der Sprache steckende implizite Denken (Basis für Sprachwissenschaft). Götterlisten explizierten die religiös implizierten Ordnungskriterien, die den Mythen zugrunde liegen und erzeugten damit eine distanzierte, methodische Herangehensweise (Basis für Religionswissenschaft).
Erst die differenzierte und methodische Betrachtung ermöglichte Reflexion, welche oft ein Umdenken und Veränderung erzeugten. Durch das philosophische Denken der antiken Griechen entwickelte sich die differenzierte Reflexion weiter.
Im weiteren Verlauf führte die glaubensbezogene (innerreligiöse) Reflexion zu Um- und Andersdeutungen religiöser (später auch kanonischer) Aussagen, führte im Christentum zum Katechismus, im Judentum zu Talmud und im Islam zu den Ahadith; er führte darüber hinaus zu Reformationen und Schismen, bis hin zur Glaubensabkehr. Außerdem bewirkten die durch die distanzierte Reflexion erzeugten Erkenntnisse, dass die, die diese Reflexion nicht machten, sie nicht verstanden, was zu Traditionsblindheit und Fundamentalismus führte.
Während sich diese Reflexion im Alten Orient, im antiken Griechenland und im Abendland mehr auf äußere Bereiche konzentrierte, bezieht es sich bspw. in Indien stärker auf innere Bereiche, wodurch Systeme "innerer Landkarten" (bspw. Chakren) entwickelt wurden. Im Judentum findet sich dies in der Kabbalah. Aus der Differenzierung wurde eine Transzendierung der Differenzierung. Im Bereich des Abendlandes, mit der Reflexion der äußeren Bereiche, führte dies zu einem Rückgang an Mystikern, in Indien führte dies zu einer Zunahme an Mystikern. Der Mystizismus führte jedoch zu einer Vernachlässigung der gemeinschaftsrelevanten Symbolsysteme, was im Gegenzug zu Häresie-Verdacht im Christentum und Islam führte.
Die Glaubensgeltung eines Textes hängt von der laufenden "redescription" ( = Wiederbeschreibung + Neubeschreibung) ab. Nur in diesem Sinn kann der Text "lebendig" bleiben. (Luhmann)
Mit dem unvermeidlichen Wandel der sozialen Milieus setzt Vergessen der in sie eingebetteten Erinnerung ein. Die Texte verlieren damit ihre (Selbst-)Verständlichkeit und werden auslegungsbedürftig. Der Klerus übernimmt die Auslegung der Texte, die nicht mehr von selbst in ihre Zeit sprechen, sondern zu ihr in kontrapräsentische Spannung geraten sind. [Assmann]
mehr dazu: Auslegung kanonischer Texte
Das mittelterliche Christentum, welches ein Rückschritt gegenüber dem antiken Denkens war, vermittelte seinen Glauben vor allem durch "Bilder" (Bilder auf Kirchenfenstern, plastische Darstellungen der Geburtsszene des Jesus, Brot und Wein als Leib und Blut Christi, usw.), während die Sprache eine Nebenrolle einnahm und der lateinische Text oft gar nicht verstanden wurde. Dadurch war für die Nichtgelehrten eine distanzierte Reflexion kaum möglich. Erst mit der Reformation (inkl. Bibelübersetzung) wurde die Sprache zur zentralen Vermittlungsmethode. Dies ermöglichte im Folgenden eine distanziertere Reflexion, die anfangs jedoch durch die Gelehrten vorgegeben wurde, mit der Zeit jedoch die Aufklärung mit bewirkte, in der die distanzierte Reflexion auf den Menschen (und Nichtgelehrten) übertragen werden will. Der menschlichen Vernunft des Einzelnen wird nun zugetraut, die Ordnung der Welt selbstständig zu durchschauen und dementsprechend sein Leben sinnvoll zu ordnen. Die religiöse Tradition wurde nun an der Vernunft gemessen, was zu einer kritischen Haltung gegenüber der Offenbarungslehre führte, womit die christlichen Inhalte, Normen und Werte in ihrer absoluten Gültigkeit relativiert wurden, womit eine Distanzierung zur heiligen Schrift erfolgte, welche erst das Aufkommen einer historisch-kritischen Forschung ermöglichte und somit autonome Wissenschaft eröffnete. Dies bewirkte im Gegenzug von seiten der Kirche nun eine teils sehr deutliche Um- und Andersdeutung der kanonischen Schrift. Gleichzeitig bewirkte die Aufklärung einen Rückzug des Glaubenssystems als alleinige Weltanschauung für alle Bereiche. So wurde bspw. Medizin nun eigenständig und war nicht mehr an Exorzismus und angeblich heilende Wallfahrtsorte gebunden.
Auf reduktiver Ebene bezog sich nun das Christentum auf die Nächstenliebe, auf das Soziale, auf die Krankenpflege usw. um in Einklang mit dem aufklärerischen Weltbild zu kommen.
Auf deduktiver Ebene entwickelte sich der Pietismus gegenüber der Aufklärung, die Erweckungsbewegung, die evangelikale Bewegung, der "Marsch des Lebens" - alles in Opposition zum aufklärerischen Weltbild.
Der Pietismus als protestantische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, welcher eine persönliche Ausgestaltung der Heilserfahrung anstrebte und das fromme Subjekt in den Fokus rückte, während die reine Lehre sowie die kirchliche Einheit in den Hintergrund gerieten, führte im weiteren zu einer stärkeren Betrachtung der persönlich-individuellen Gefühlswelt, was sich dann später in der Esoterik-Bewegung wieder fand.
Die traditionellen Formulierungen für die religiösen Erfahrungen wurden untauglich und dies führte dazu, das der Gläubige (Nichttheologe) nun selbst seine Ausdrucksweise entwickelte, was zu Formulierungen wie "Gott ist Liebe" führte, was nicht den traditionellen Erklärungsmustern entspricht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Schrift
Quellen:
Fritz Stolz: "Grundzüge der Religionswissenschaft"
Jan Assmann: "Das kulturelle Gedächtnis"
Niklas Luhmann: "Die Religion der Gesellschaft"
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