Direkt zum Hauptbereich

Offenbarung und Vision - tiefenpsychologische Betrachtung

Der jenseitige Bereich wird den Vorstellungen nach von geistigen (transzendenten) Wesen (Götter, Zwischenwesen, lebende Tote) bewohnt, welche durch bloßes Denken auf das Diesseits einwirken können ("Wunder"), die sich dem Menschen über Visionen und Träume mitteilen können ("Offenbarung") und die fähig sind, sich einen sichtbaren Körper zu nehmen ("Inkarnation").

Aus der Reflexion über das Offenbarte ging die Theologie hervor.
Dem archaischen Menschen war daran gelegen, sich nicht den Unwillen der transzendenten Wesen zuzuziehen, daher war er grundlegend religiös eingestellt und darauf ausgerichtet, unbedingt den Willen dieser Wesen zu beachten.

Seit der Entdeckung des Unbewussten, bzw. der "inneren Wahrnehmung" bezeichnen wir "Offenbartes" als Mythen: als historisch manifest gewordene Gestaltung des Unbewussten. Dabei entstand die Theologie dabei aus der Reflexion über das "Offenbarte".
Da in dem archaischen Weltbild die jenseitigen Wesen und ihre Welt, der diesseitigen Welt und ihren Wesen überlegen war, war der für ihn sicherste Weg die religiöse Haltung. Aus dem kollektiven Bemühen und diese Haltung sind die Religionen hervor gegangen.

Der Mensch fühlte sich im archaischen Weltbild "unter den Augen Gottes wandelnd", fühlte sich abhängig vom "Walten der göttlichen Gnade", er wusste, das sein Geist beschränkt war und göttliche Erleuchtung bedurfte und er nach seinem Tod Rechenschaft vor Gott ablegen musste.

Für den archaischen Menschen ist:
das "Sehen mit dem Auge des Leibes" die Entsprechung für das, was wir als Sinneswahrnehmung auffassen, und
das "Sehen mit dem Auge der Seele" entspricht dem, was wir als Träume und Visionen bezeichnen, was seit dem empirischen Nachweis des Unbewussten also das ist, was wir nunmehr als "innere Wahrnehmung" bezeichnen.

Unter "innerer Wahrnehmung" versteht man den Informationsstrom, der vom Selbst - dem im unbewussten Bereich gelegenem Führungszentrum der gesamten Psyche - zu, "Ich", dem "Zentrum" des Bewusstseins fließt.
Im archaischen Bewusstsein nahm man jedoch an, das dieser Informationsstrom von außen käme, aus dem Jenseits.
C.G.Jung´s Entdeckung, das Visionen Gestaltungen des Unbewussten sind, hatte Konsequenzen: Der Theologie wurde ihr erkenntnistheoretisches Fundament - die archaische Offenbarungsvorstellung - entzogen. Und als zu Beginn der Neuzeit empirische Wissenschaften entstanden - und den archaischen Wissenschaftstyp, die Theologie, ablösten - entstand das Postulat des methodischen Positivismus.

Das, was der archaische Mensch als übernatürliche Offenbarung auffasste, waren in der Projektion wahrgenommene Gestaltungen des Unbewussten.

Da es dem archaischen Menschen unmöglich war zu erkennen, dass der spontane Eindruck einer Vision trügt, galten ihm die Berichte der Visionäre als unbezweifelbare Aussagen (...).
Auf Grund solcher Berichte war er überzeugt, das es neben "dieser" Welt noch eine "andere", normalerweise unsichtbare Welt gebe, und das diese von konkreten Wesen bewohnt sei.

Dieser spontane Eindruck vermittelt das Gefühl, man würde ein Geschehen sehen, das sich außerhalb von einem selbst abspielt. Aber dies liegt nur daran, das das Unterbewusstsein die eigentlich innere Wahrnehmung (Bilder als sprachliche Formulierung noch nicht formulierter Sachverhalte) nach außen projiziert.

Der Trugschluß kommt zustande, da Visionen eine ganz außergewöhnliche Erlebnisqualität haben und dabei die Überlegenheit des unbewussten Selbst über das Ich erfahren wird.

Durch dieses "Erleben" mittels Traum und Vision meinte man zu "wissen", das sich die jeweiligen Wesen dem Menschen offenbaren können.

Visionen sind nicht mit Halluzinationen zu verwechseln, sondern sind so "normal" wie Träume, treten jedoch seltener auf. Der Visionär gleitet dabei aus dem Wachzustand in den sogenannten "außergewöhnlichen" Bewusstseinszustand, der oft als "Entrücktsein", Extase oder Trance bezeichnet wird. In diesem Zustand ist der Mensch unansprechbar und unempfindlich gegenüber Schmerzen.

Zur Veranschaulichung dessens, was das Selbst dem Ich in einem Traum oder einer Vision mitteilt, wählt es jene Bilder, die dem Visionär durch seine Sozialisation bekannt sind: der christliche Visionär sieht Jesus oder Maria: der Oglala-Sioux sieht über den Wolken heilige Pferde und seine Hauptgottheit, die ihm Bogen und heilige Pfeile überreicht.

"Weil es sich beim innerlich Wahrgenommen um semantisch und syntaktisch gestaltete, in einer Bildsprache codierte Texte handelt, fasst man in der Tiefenpsychologie Wachfantasien, Träume und Visionen unter dem Oberbegriff "Gestaltungen des Unbewussten" zusammen."

fachlich ausgedrückt: Das in Visionen Gesehene ist in der Projektion (der Überzeugung des Visionärs, er hätte in die Außenwelt gesehen) perzipiert (wahrgenommen) und deshalb konkretistisch (als etwas, das zur selbstständigen Existenz fähig sei) apperzipiert (in die Weltanschauung eingeordnet) worden.


Quellen:
- Willy Obrist: "Die Mutation des europäischen Bewusstseins: Von der mythischen zur heutigen Weltsicht und Spiritualität"
- Willy Obrist: "Der religiöse Indifferentismus" 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

christliche Foltermethoden

Der Befragungsstuhl ... war in vielen Varianten im Einsatz. Die klassische Variante ist der gespickte Stuhl. Bei diesem befinden sich sowohl auf Sitz, Lehne, Bein -und Armbereich Dornen, die sich mit Verschärfung der Folter in das Opfer bohrten. Sehr beliebt war auch die Kombination des Stuhls mit Feuer. Bei dieser Variante wurde ein Stuhl aus Metall verwendet und vor oder unter dem Stuhl ein Feuer entfacht. Geigen Die Wasserfolter Da gab es z. B. die Wasserfolter: Der Körper des Angeklagten wurde auf einer schräg liegenden Tischplatte festgebunden oder an straff gezogenen Seilen frei in der Luft schwebend nur von einem Schemel in der Körpermitte gestützt. Dann musste das Opfer Unmengen von Flüssigkeit schlucken: 6 Liter bei der kleinen, 12 bei der großen Wasserfolter. Wer die Zähne zusammen presste, dessen Mund wurde vom Henker mit einer eisernen Zange aufgerissen. Der goss dann weiteres Wasser aus einer Literkanne in den Mund des Gequälten. Viele der Opfer erstickten daran, oder si

Sinn und Funktion von Religion

"Die Wahrheit einer Religion liegt nicht da, wo sie die Gläubigen vermuten" (Emile Durkheim) Menschliche Konstrukte und/oder kirchliche Dogmen können uns angesichts der Sinnlosigkeit des Daseins helfen, die unendliche Komplexität der Welt auf ein menschlich handhabbares Maß zu reduzieren. (sinngemäß Niklas Luhmann) "Da sich alle Gläubigen in jeweils ihrem Glaube, in ihrer Religion wohl fühlen, gleich, welche spezifischen Merkmale diese Religion hat, muss es etwas anderes als dieses Merkmal sein, was sie zufrieden stellt" Es ist das genetisch verankerte Bedürfnis nach Sicherheit in jedem Menschen, das (auch) durch Religion befriedigt wird. (Dieter Brandt) -------- Definitionsversuche des Begriffes "Religion" - Der substanzialistische Religionsbegriff bezieht sich auf inhaltliche Merkmale von Religion, da die Definition vom Wesen der Religion abgeleitet wird und die wesentlichen Merkmale von Religion charakterisiert werden sollen. Er begreift Reli

Ashera & Jahwe

   Der hebräische Begriff Ašerā (ugaritisch aṯrt, wohl als Aṯirat, semitischen aṯr "heiliger Ort") erscheint 40 mal im Alten Testament, aber die Unterscheidung zwischen Göttern und ihren Kultobjekte waren nicht genau definiert. In einigen altbabylonischen Götterlisten wird Ashera als eine von Amurru's Ehefrauen aufgelistet. Im hethitischen Mythos von Elkunirsa, wird die Frau des Gottes Elkunirsa "Asertum" genannt. In den Texten von Ugarit, ist Göttin Atrt (Atiratu) die Frau von El, dem höchsten Gott des Ugaritischen Pantheons. Einige Gelehrte haben vorgeschlagen, dass Asherah auch in Jer 7,18 und 44,17-19 unter dem Beinamen "Königin des Himmels" zu finden ist, aber eine Identifikation mit den Astralgottheiten Ishtar oder Astarte ist wahrscheinlicher (Olyan 1987). Einige fragmentarische Inschriften, die Asherah erwähnen fanden sich in Kuntillet Ajrud. Darüber hinaus bestätigt eine Schrift von Khirbet el-Kom (10 km südöstlich von Lachish) die Ass