Definitionsversuche des Begriffes "Religion"
Religionswissenschaft bezieht sich auf die Reflexion "von innen" und "von außen". Die Zuordnung von Religion und Gemeinschaft führte zur Entstehung der Religionssoziologie, als deren Begründer Auguste Comte (1798-1857) zählt, wenngleich es sich bei ihm noch um eine "Sozialphilosophie" mit stark religiösen Zügen handelte, die noch nicht empirisch orientiert war. Emile Durkheim ( ->) begründete dann die Soziologie als empirische Wissenschaft und grenzte sie von der Psychologie und der Biologie ab.
Religionswissenschaft kann nur konstruktivistisch ermitteln, da ihr Untersuchungsgebiet - die Religionen - in einem Höchstmaß konstruktivistisch sind und selbst die gesammelten, empirischen Daten, die der Religionswissenschaft zur Verfügung stehen, konstruktivistisch sind (bspw. die Erklärungen von Gläubigen).
-Der substanzialistische Religionsbegriff bezieht sich auf inhaltliche Glaubens-Merkmale und begreift Religion als etwas, das sich auf Gott, das Heilige, das Transzendente, das Absolute oder das Allumfassende bezieht.
- Der funktionalistische Religionsbegriff definiert Religion über die Funktion im Bezug auf gesellschaftliche und individuelle Zusammenhänge und bezieht sich dabei auf die Integrationen des einzelnen in die Gesellschaft, auf Orientierung und Sinnstiftungen.
Der amerikanische Religionspsychologe J.H. Leuba sprach bereits 1912 von 48 Definitionsversuchen für "Religion", die er alle unzureichend fand.
Vertreter des substanzialistischen Religionsbegriffes:
- Friedrich Heiler (1892-1967) bezieht Religion auf das "Gebet" als unmittelbare Ausdrucksform tiefer, seelischer Erlebnisse, welches spontan (und in freien Worten) aus der Not oder dem Dankgefühl entspringt und sieht damit eine "Ich-Du"-Beziehung zwischen Mensch und Gott.
Jedoch haben nicht alle Religionen Bitt- und Lobgebete.
- Geo Widengren (1907-1996) sieht im Glaube an Gott das Hauptmerkmal von Religion und macht eine Abgrenzung von "Religion" (als unterwürfiger Glaube an Gott) und "Magie" (als Versuch, sich selbst zu Gott zu machen, bzw. diesen zu kontrollieren). Jedoch gehen Religion (bspw. Gebet) und Magie (bspw. Beschwörung) oft ineinander über.
- Nathan Söderblom (1866-1931) sieht Religion als Unterscheidung zwischen "heilig und profan", wobei der Begriff "Heiligkeit" für in wesentlicher ist, als der Begriff "Gott", da Religion auch ohne bestimmte Auffassung von Gott auskommt, jedoch nicht ohne die Unterscheidung zwischen "heilig und profan".
- Rudolf Otto (1869-1937) bezieht sich auch auf die Unterscheidung "heilig/profan", wobei er das "Heilige" als ein Geheimnis, welches gegenüber dem Menschen das "völlig andere" darstellt und ihm somit einerseits Furcht und Ehrfurcht, anderseits Faszination abverlangt.
Vertreter des funktionalistischen Religionsbegriffes:
- Ludwig Feuerbach (1804-1872) sieht einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Instinkt der Tiere und dem Bewusstsein des Menschen. Das Bewusstsein strebt über die körperlichen Grenzen hinaus ins "Unendliche" und macht somit u.a. seine eigene Sterblichkeit zu einem Gegenstand seines Denkens und bemüht sich dabei, diese Grenze zu negieren, indem er an Unsterblichkeit, ewige Seele, Reinkarnation usw. glaubt. "Wenn der Tod nicht wäre, gäbe es keine Religion"
( -> "Kompensationshypothese").
Für Feuerbach ist "Gott" eine kulturell geprägte Projektion des Menschen (vgl. Xenophanes, geboren um 580/570 v.u.Z.). Erst wenn diese Projektion schwindet und der Mensch sich schmerzhaft seiner Begrenztheit bewusst wird, wird wahre Humanität möglich.
- Emile Durkheim (1858-1917) führte den Begriff der "Funktion" ein (drum nannte ihn Malinowski den "Vater des Funktionalismus"). Für Durkheim war das Hauptmerkmal von Religion die Integrationsfunktion des Einzelnen in die (Glaubens-)Gemeinschaft. Religion als "ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Glaubensüberzeugungen und Praktiken beziehen, die in ein und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle (Menschen) vereinen, ide ihr angehören". Zudem unterschied er zwischen "profan und heilig" (vgl. substanzialistischer Ansatz), wobei sakrale Dinge, je nach Gemeinschaft, beliebig sind. Dinge also, die der einen Glaubensgemeinschaft heilig sind, können für eine andere Glaubensgemeinschaft profan sein. Für Durkheim ist die Gesellschaft der Gegenstand der Religion ("Gott = Gesellschaft"). Die Gesellschaft ist dem Einzelnem über- und vorgeordnet und somit im Grunde "transzendent", womit Durkheim den Begriff der "Transzendenz" innerweltlich, statt metaphysisch erklärt.
E. Durkheim (Wikipedia)
- Max Weber (1864-1920) gilt als Begründer der Soziologie (und Religionssoziologie) in Deutschland und bezeichnete sich selbst als "religiös unmusikalisch". Er sieht Religion als Sinngebungsschemata und bezieht sich dabei auf die Probleme mit dem Unheil und dem Tod (vgl. Feuerbach und "Kompensationshypothese"). Religion als Sinnstiftung vermittelt dabei aus der Unzahl an möglichen Verhaltensweisen eine Selektion derer, die als sinnvoll (im Bezug auf die Glaubensgemeinschaft) gelten können.
- Bronislaw Malinowski (1884-1942) gilt als eigentlicher Begründer der funktionalistischen Deutung und verwendete auch Elemente von Freud´s Psychoanalyse. "Kultur" (inkl. Religion) sieht er als Mittel zur Kompensation (vgl. Feuerbach), damit der Mensch mit denen Problemen seiner Umwelt (bspw. die Auseinandersetzung mit dem Tod) und der Befriedigung seiner Bedürfnisse klarkommt. Er sieht "kultur" als Anpassung des Menschen an die Umwelt, wobei natürliche Triebe kulturell reguliert werden.
Malinowski unterscheidet dabei:
1. Wissenschaft: als rationaler Umgang mit der Wirklichkeit innerhalb der Grenzen des zur Verfügung stehenden Wissens und der zur Verfügung stehenden Techniken
2. Magie: Glaube, mit Zauberformeln und Ritualen bei Alltagsproblemen (wie Misserfolgen bei der Jagd) Erfolge zu erreichen, wenn rationale Mittel dafür nicht ausreichen
3. Religion: System von Glaubenssätzen, welches Orientierung bei Problemen schafft, die über den Alltag hinausgehen (bspw. Tod -> Kompensationshypothese). Religion gliedert zudem den Einzelnen in die Gemeinschaft ein und reguliert sein Verhalten ( -> "Integrationshypothese")
- Clifford Geertz (1926-2006) sieht Religion als ein Symbolsystem, dessen Ziel es ist, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden, die mit einer solchen Aura von Faktizität umgeben werden, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der Realität zu entsprechen scheinen.
Jedes "System" zeichnet sich dadurch aus, dass es von den in seiner Umwelt vorhandenen Möglichkeiten einige auswählt und andere ausgrenzt, womit jedes "System" die Komplexität seiner Umwelt reduziert. Bei psychischen und sozialen Systemen kann man diese Reduktion als "Sinn" benennen. "Sinn" bezeichnet damit eine Auswahl aus der Überfülle an Möglichkeiten. Religion hat für die Gesellschaft die Funktion (d.h. funktionalistischer Ansatz), die Überfülle des Möglichen auf einen bestimmbaren Sachverhalt zu reduzieren, um damit Beliebigkeit und Veränderung auszuschließen. Damit ist die Funktion von Religion "orientierend" und versucht dem Bereich des Unkontrollierbaren (bspw. die Naturkatastrophen, entgegengesetzte politische Orientierungen usw.) eine Form zu geben, mit der sich umgehen lässt. Dabei werden zur Unterscheidung "Chiffrierungen" wie "gut/böse", "profan/heilig" usw. verwendet.
- Peter L. Berger (1929-2017) und Thomas Luckmann (1927-2016)
"Konstruktion der Wirklichkeit"
Berger beschreibt die Gesellschaft als ein dialektisches Phänomen. Die Gesellschaft ist ein geschaffenes und aufgezogenes Produkt des Menschen, das selbst wiederum kontinuierlich den Menschen beeinflusst und auf ihn einwirkt. Menschliche Aktivität und das Bewusstsein lässt Dinge in der Außenwelt zur Realität werden, Dinge werden objektiviert („verdinglicht“) und nehmen realistische Existenz in der Welt an. Kultur (inkl. Religion) gibt Orientierung und stiftet Sinn, das Verlangen nach Sinn ist beim Menschen da angesiedelt, wo angeborenes Verhalten fehlt. Sinn ersetzt also Instinkt. Die Konfrontation mit dem Tod ist eine Grenzerfahrung, die über die Alltagserfahrung hinausgeht und zu Chaos führt und daher im Rahmen der Sinnstiftung "in Ordnung" gebracht werden muss. ( -> Kompensationshypothese). Religion konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Gewohnten und dem Unbekannten und ist somit der Versuch, das gesamt Universum auf den Mensch zu beziehen und für ihn zu beanspruchen.
Luckmann fragt nach der individuellen Religiosität, nach Funktion und Bedeutung der Religion für das Individuum in der modernen Gesellschaft (statt für die Funktion der Gesellschaft selbst). Als „religiös“ bezeichnet Luckmann bereits den Akt, in dem ein menschlicher Organismus seine Natur überschreitet und zu einem gesellschaftlichen Wesen wird. Diese Veränderung des Blickwinkels führte im Anschluss an Luckmann auch zu verstärkten Bemühungen, individuelle Religiosität mit Hilfe qualitativer Methoden empirisch zu erforschen.
weiterführend: https://religionskritisch.blogspot.com/2017/11/sinn-und-funktion-von-religion.html
- Fritz Stolz: "Grundzüge der Religionswissenschaft"
- https://de.wikipedia.org/wiki/Religionsdefinition
- https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Heiler
- https://de.wikipedia.org/wiki/Geo_Widengren
- https://de.wikipedia.org/wiki/Nathan_Söderblom
- https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Otto
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Feuerbach
- https://de.wikipedia.org/wiki/Émile_Durkheim
- https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber
- https://de.wikipedia.org/wiki/Bronisław_Malinowski
- https://de.wikipedia.org/wiki/Clifford_Geertz
- https://de.wikipedia.org/wiki/Niklas_Luhmann
- https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_L._Berger
- https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Luckmann
- https://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Comte
- https://de.wikipedia.org/wiki/Xenophanes
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