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Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit.

Von Thomas Metzinger

[…]
Seiten 11 und 12:

Intellektuelle Redlichkeit

Intellektuelle Redlichkeit bedeutet, dass man einfach nicht bereit ist, sich selbst etwas in die Tasche zu lügen. Sie hat auch etwas mit sehr altmodischen Werten wie Anständigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu tun, mit einer bestimmten Form von ,innerem Anstand’. […]. Intellektuelle Redlichkeit ist möglicherweise aber auch gleichzeitig genau das, was Vertreter der organisierten Religionen und Theologen aller couleur einfach nicht haben können, auch wenn sie es gerne für sich in Anspruch nehmen würden. Intellektuelle Redlichkeit bedeutet ja gerade, dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann, dass man aber trotzdem einen bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis besitzt, und zwar selbst dann, wenn es um Selbsterkenntnis geht, und auch dann, wenn Selbsterkenntnis einmal nicht mit schönen Gefühlen einhergeht oder der akzeptierten Lehrmeinung entspricht.

[…]. Es geht also auch hier wieder um moralische Integrität, darum, dass das, was man tut, so oft wie irgend möglich zu den Wertvorstellungen passen sollte, die man sich zu Eigen gemacht hat - vor allem aber darum, was man überhaupt glauben sollte. Denn das ,Sich-zu-Eigen-Machen’ einer Überzeugung ist selbst eine innere Handlung, die man durchaus auch unterlassen kann. Das spontane Auftreten einer Überzeugung ist eine Sache, das Festhalten an dieser Überzeugung eine ganz andere. Es gibt im menschlichen Geist nicht nur emotionale Selbstregulation (also die Fähigkeit, den eigenen Gefühlszustand zielgerichtet zu beeinflussen) und die bewusste Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit, es gibt diese innere Selbstregulation auch im Bezug auf das, wovon man überzeugt ist. Interessanterweise ist die Kontrolle des eigenen Gefühlszustandes und der eigenen Aufmerksamkeit etwas, das Säuglinge erst nach und nach erlernen. Die kritische Selbstregulation des Vorganges, bei dem das ,Sich-zu-Eigen-Machen’ von Überzeugungen stattfindet, ist aber etwas, das viele von uns auch als Erwachsene kaum beherrschen und oft niemals vollständig erlernen. Kann man seine Autonomie, seine innere Freiheit erhöhen, indem man diese Fähigkeit der Selbstkontrolle trainiert und verbessert ? Genau darum geht es bei der intellektuellen Redlichkeit. […]. Beim Denken geht es nicht um schöne Gefühle. Es geht um die bestmögliche Übereinstimmung zwischen Wissen und Meinung; es geht darum, nur evidenzbasierte Überzeugungen zu haben und darum, dass Kognition nicht emotionalen Bedürfnissen dient. […]. Das aufrichtige Streben nach intellektueller Integrität ist in Wirklichkeit ein wichtiger Sonderfall des Strebens nach moralischer Integrität.

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[…]. In seiner höchsten Form führt der Wille zur Wahrheit dazu, dass man sich selbst eingestehen kann, dass es keinerlei empirische Belege für die Existenz Gottes gibt, und dass über viertausend Jahre der Philosophiegeschichte kein überzeugendes Argument für die Existenz Gottes hervorgebracht haben. Er erlaubt es uns, die von der Evolution fest in uns eingebaute Suche nach emotionaler Sicherheit und guten Gefühlen loszulassen und der Tatsache ins Auge zu schauen, das wir radikal sterbliche Wesen sind, die zu systematischen Formen der Selbsttäuschung neigen. Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber erlaubt es, das Wahnhafte und die systematische Endlichkeitsverleugnung in unserem Selbstmodell zu entdecken.

[…]. Wann ist es eigentlich aus ethisch-moralischer Perspektive in Ordnung, an etwas Bestimmtes zu glauben, sich also eine bestimmte Überzeugung ,zu Eigen’ zu machen ?

Der Urvater dieser für die Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität so absolut zentralen Frage war der britische Philosoph und Mathematiker William Kingdon Clifford. Hier sind seine zwei Grundprinzipien:

° Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, etwas aufgrund unzureichender Beweise zu glauben.

° Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, für die eigene Überzeugung relevante Beweise zu ignorieren, oder sie leichtfertig abzuweisen. 15

In der akademischen Philosophie nennt man diese Position ganz einfach ,Evidentialismus’. Das heißt, dass man nur etwas glaubt, für das man wirklich Argumente und Belege hat. Die philosophischen Gegenstücke sind etwas, das wir alle gut kennen, nämlich der Dogmatismus und der Fideismus. Dogmatismus ist die These: ,Es ist legitim, an einer Überzeugung festzuhalten, einfach weil man sie hat’. Fideismus nennt man in der Philosophie die Idee, dass es völlig legitim ist, an einer Überzeugung auch dann festzuhalten, wenn es keine guten Gründe oder Evidenzen für sie gibt, sogar angesichts überzeugender Gegenargumente. Der Fideismus ist also der reine Glaubensstandpunkt. Für den Fideismus ist es legitim, an bestimmten Überzeugungen festzuhalten, nicht nur ohne irgendwelche positiven Argumente oder Evidenzen für sie, sondern selbst angesichts starker Gegenargumente und starker empirischer Belege gegen eigene Überzeugungen. Das Interessante daran ist jetzt, dass man den Fideismus als die Verweigerung jeder ethischen Einstellung zum inneren Handeln überhaupt beschreiben kann. Er ist ein Mangel an innerem Anstand. Und das ist der klassische Standpunkt der organisierten Religion im Gegensatz zur Spiritualität. Wenn man die beiden erkenntnistheoretischen Positionen einmal rein psychologisch interpretieren würde, dann geht es beim Fideismus um vorsätzliche Selbsttäuschung, um systematisches Wunschdenken oder auch um Paranoia, während das psychologische Ziel der Ethik eines Glaubens eine ganz bestimmte Form von geistiger Gesundheit ist. […].

Wenn man sich in vollständiger Abwesenheit positiver theoretischer oder praktischer Gründe gehen lässt und es sich gestattet, einfach an einem bestimmten Glauben festzuhalten, dann hat man also die ganze Idee einer Ethik des inneren Handelns bereits aufgegeben. Man lehnt das Projekt der intellektuellen Redlichkeit ab, man verweigert auf der Ebene des eigenen Geistes nicht nur die Rationalität, sondern auch die Moralität. Damit verändern sich aber nicht nur die eigenen Meinungen und Überzeugungen, sondern letztlich verliert auch die Person als Ganze ihre Integrität. Und das ist es, was ich am Anfang damit meinte, dass intellektuelle Redlichkeit das ist, was Theologen und die Vertreter der organisierten Religion aller Art einfach nicht haben können. Vielleicht hat dieser Satz zunächst nach billiger Polemik oder Provokation um der Provokation selbst willen geklungen. Es geht aber um einen einfachen und klaren sachlichen Punkt, nämlich das ,Prinzip der Selbstachtung’ - also darum, dass man seine Würde und seine geistige Autonomie nicht verliert. […].

[…].

Existiert Gott ?

[…]. Lassen Sie uns drei Beispiele dafür betrachten, was es am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts bedeuten könnte, sich nichts in die Tasche zu lügen. Beginnen wir dabei mit der Frage nach der Existenz Gottes. Begrifflich ist es so, dass es auch nach 2500 Jahren westlicher Philosophiegeschichte kein einziges überzeugendes Argument für die Existenz Gottes gibt. 17 Alle bekannten Gottesbeweise scheitern. Und es ist auch gar nicht so einfach - wie viele von uns das gerne tun - sich in den Agnostizismus zurückzuziehen und zu sagen: ,Ich sage einfach nichts dazu, ich enthalte mich des Urteils !’. Das ist deswegen problematisch, weil die Ganze Beweislast auf Seiten der Theisten liegt, auf der Seite derjenigen, die eine positive Behauptung aufstellen, ohne sie durch empirische Belege oder vernünftige Argumente stützen zu können. Wenn zum Beispiel unsere besten Theorien und alle verfügbaren Daten darauf hindeuten, dass es den Osterhasen nicht gibt, dann ist es auch nicht intellektuell redlich zu sagen ,Ich bin Osterhasenagnostiker, ich lasse das für mich einfach offen !’. Ein klassischer Fehlschluss ist in diesem Zusammenhang das in der Philosophie seit vielen Jahrhunderten bekannte Argumentum ad ignorantiam, das ,Argument aus dem Nichtwissen’. Der logische Fehler besteht hier in der Annahme, dass etwas, was nicht als falsch bewiesen ist, automatisch wahr ist. In unserem Beispiel sähe der klassische Denkfehler so aus: ,Solange die Existenz des Osterhasen nicht zwingend widerlegt ist, kann man sie als eine allgemein akzeptierte Tatsache voraussetzen !’. Dieser Fehlschluss liegt uns allen aus psychologischen Gründen sehr nah, weil er darin besteht, sich kulturellen Traditionen zu unterwerfen und aus unserem Nichtwissen insgeheim doch eine starke Schlussfolgerung ableiten zu wollen. Aus der Tatsache, dass man etwas nicht weiß, folgt aber fast nichts wirklich Interessantes.

Es könnte argumentationstheoretisch also durchaus der Fall sein, dass der Agnostizismus am Ende auch deshalb keine Option ist, weil die Beweislast so ungleich verteilt ist und es einfach keine überzeugenden positiven Argumente für die Existenz Gottes gibt. […].

Begrifflich scheint es also so zu sein, dass es kein überzeugendes Argument für die Existenz Gottes gibt und dass man leicht in Denkfehler oder irrelevante Diskussionen abgleiten kann. Was aber ist eigentlich mit empirischen Evidenzen ? Empirisch, das ist rivial, gibt es keinerlei Belege für die Existenz Gottes. Auch mystische Erfahrungen und veränderte Bewusstseinszustände als solche sind natürlich keine empirischen Belege im engeren Sinne. […].

Nach dem, was sich in der Forschung langsam herauszukristallisieren beginnt, hat die Evolution des Glaubens viel mit der Evolution von nützlichen Formen der Selbsttäuschung zu tun. 20 In der Evolution des Bewusstseins sind nämlich nicht einfach nur immer bessere Wahrnehmungen und immer bessere Formen von Denken und Intelligenz entstanden. Es sind auch nützliche falsche Überzeugungen, positive Illusionen und komplette Wahnsysteme aufgetaucht, die sich möglicherweise deshalb erhalten haben, weil sie letztlich dazu geführt haben, dass der Fortpflanzungserfolg der betreffenden Wesen anstieg, dass sie also mehr Gene erfolgreich in die nächste Generation kopieren konnten. Fast alle Eltern nehmen die eigenen Kinder ganz direkt als überdurchschnittlich hübsch und intelligent war. Sie sind stolz auf ihre Kinder und behaupten, dass ihre emotionale Lebensqualität, ihre allgemeine Zufriedenheit und persönliche Sinnerfahrung mit der Elternschaft zugenommen haben. Die psychologische Forschung zeigt, dass sie in Wirklichkeit eine geringere emotionale Lebensqualität haben als Kinderlose, dass positive Gefühle seltener auftreten, negative Gefühle und depressive Episoden häufiger sind, und dass auch die Zufriedenheit mit der Ehe und dem Lebenspartner schwächer ist. 21 Ganz allgemein glaubt die Mehrheit der Menschen, mehr positive und weniger negative Erlebnisse zu haben als der Durchschnitt. Selbsttäuschung lässt uns vergangene Niederlagen vergessen, sie erhöht Motivation und Selbstvertrauen. Die konventionelle Auffassung, dass die natürliche Selektion Nervensysteme favorisiert, die immer genauere Bilder des Selbst und der Wirklichkeit produzieren, ist mittlerweile überholt. Die neuere Forschung zeigt, dass die Evolution in vielen Fällen systematische Fehlrepräsentationen der Wirklichkeit hervorgebracht hat. Es gibt eine Evolution der Selbsttäuschung. Positive Illusionen, Verdrängungsmechanismen und wahnhafte Modelle der Wirklichkeit haben aber anscheinend nicht nur die rein defensive Funktion, den inneren Zusammenhalt des menschlichen Selbstmodells zu stärken und es vor bestimmten negativen Informationen zu schützen. 22 Sie dienen allem Anschein nach auch auf sozialpsychologischer Ebene als wirksame Strategie, um genau die Information zu kontrollieren, die für andere Menschen verfügbar ist, um diese effektiver zu täuschen - zum Beispiel um andere wirklich glaubhaft davon zu überzeugen, dass man moralischer, stärker, schlauer oder attraktiver ist, als es tatsächlich der Fall ist. Selbsttäuschung dient also nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch der Agression, etwa dem Versuch der Erhöhung des eigenen sozialen Status. 23 Manche Formen der Selbsttäuschung funktionieren nur in Gruppen wirklich gut, sie stabilisieren interne Hierarchien und bereits existierende Ausbeutungsstrukturen und fördern dadurch offensichtlich den Zusammenhalt von Großgruppen (zum Beispiel auch gegenüber anderen Stämmen, Völkern oder Religionsgemeinschaften). All dies sind Funktionen, die auch die Religion erfüllt. […]. Das subjektive Erleben von Gewissheit ist nicht dasselbe wie der tatsächliche Besitz von Gewissheit, denn die moderne Forschung zeigt auf vielfältige Weise, dass wir uns jederzeit auf unbemerkte Weise über den Inhalt des eigenen Bewusstseins täuschen können. Intuitionen haben eine lange biologische Geschichte. 24 Wer es also ernst meint mit dem philosophischen Projekt der Selbsterkenntnis, muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass intuitive Gewissheiten systematisch in die Irre gehen können und dass es auch beim ,direkten Blick ins eigene Bewusstsein’ jederzeit introspektive Illusionen 25 geben könnte.

Das neue Hauptproblem für unsere Spezies ist die explizite und bewußt erlebte Einsicht in die eigene Sterblichkeit. Die so genannte terror Management theorybesagt, dass das Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit einen direkten Konflikt mit unserem Selbsterhaltungstrieb erzeugt und damit auch das Potential für eine lähmende, existentielle Form der Angst. 26 Wir versuchen diese zu bewältigen, indem wir Sicherheit und Stabilität in einer Weltanschauung suchen, die wir als eine Art ,Angstpuffer’ benutzen. Ein fester ideologischer Rahmen ermöglichst es uns dann auch auf emotionaler Ebene, unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren, zum Beispiel durch einen religiösen Glauben, die gemeinsame Verpflichtung auf bestimmte Werte, Rituale und eine auf mehr oder weniger strengen Regeln basierenden und mit anderen Gläubigen geteilte Form der Lebensführung. 27 Die empirische Forschung zeigt: Je schlechter es uns gelingt, Informationen über die eigene Sterblichkeit zu verdrängen, desto stärker identifizieren wir uns mit dem von uns gewählten ideologischen System.

Ich selbst möchte in diesem Zusammenhang den Begriff eines ,adaptiven Wahnsystems’ einführen. Das mag zunächst wieder gewollt provokativ klingen, aber auch hier geht es mir nicht um Polemik, sondern um einen klaren, sachlichen Punkt. ,Wahn’ ist zunächst, rein psychiatrisch gesehen, eine offensichtlich falsche Überzeugung, die mit einem starken subjektiven Gewissheitserleben einhergeht und die durch vernünftige Argumente oder empirische Belege nicht korrigiert werden kann. Ein System aus Wahnvorstellungen ist ein ganzes Netzwerk zusammenhängender Überzeugungen, das auch von vielen Menschen miteinander geteilt werden kann. Aus psychiatrischer Perspektive gesehen ist ein Wahn immer etwas, das den Patienten in der Lebensführung beeinträchtigt und dadurch meistens auch einen Leidensdruck erzeugt - für religiöse Glaubenssysteme wird dieser Zusammenhang traditionell bestritten (oder zumindest auf diplomatische Weise ignoriert). Aber bei genauerem Hinsehen ist dies natürlich nicht richtig. Denn darum geht es ja gerade: Eine Einschränkung von intellektueller Redlichkeit führt zu einem Verlust von Autonomie und Flexibilität. Sie hat die Menschheit wiederholt in politische und militärische Katastrophen geführt, in Diktaturen und Kriege. Natürlich ist es wahr, dass solche Glaubenssysteme für einzelne Menschen und in kurzen Zeiträumen das subjektive Leiden wirksam vermindern können. Sie spenden Trost, ermöglichen intensive Gemeinschaftserfahrungen und das Erleben von Geborgenheit in einer unsicheren Welt, sie sind sozusagen metaphysische Placebos, die in der existentiellen Palliativmedizin eingesetzt werden. Für die Menschheit als Ganzes ist diese Strategie aber objektiv nicht nachhaltig. Das ist der sachliche, für jeden leicht zu verstehende Punkt: Die lokale, kurzfristige Stabilisierung des Selbstwertgefühls erzeugt auf globaler Ebene immer wieder unfassbares Leid.

Warum aber spreche ich von ,adaptiven’ Wahnsystemen ? Dass ein Wahnsystem ,adaptiv’ ist, bedeutet, dass es eine Anpassungsleistung darstellt. Adaptive Wahnsysteme sind Versuche, sich an eine unerwartete Herausforderung anzupassen, an eine neue Gefahr, die gleichzeitig in der Innen- und der Außenwelt eines Menschen auftritt. Diese Gefahr kann zum Beispiel das plötzlich auftretende, explizite und bewußt erlebte Wissen um die eigene Sterblichkeit sein. Und die Religion entstand ja historisch gesehen auch zuerst aus Bestattungsriten, aus Grabbeilagen und dem Ahnenkult, das heißt aus systematischen Formen der Sterblichkeitsverleugnung - Coping-Strategien in Bezug auf die eigene Endlichkeit. Wenn man von adaptiven Wahnsystemen redet, spricht man indirekt natürlich auch von geistiger Gesundheit und Krankheit. Eine interessante neue Einsicht könnte also sein, dass die Evolution insbesondere auch auf der psychologischen und soziokulturellen Ebene allem Anschein nach erfolgreiche Formen von geistiger Krankheit hervorgebracht hat.

Das ist deshalb interessant, weil es ganz direkt mit dem Streben nach Integrität zu tun hat: Vielleicht gibt es ja Vorgänge in uns, die im Sinne des eingangs genannten Krishnamurti-Zitats das Selbst sozusagen von Geburt an korrupt machen, indem sie das, was Kant die ,innere Lüge’ genannt hat, zum Teil direkt in uns eingebaut haben. Vieles aus der aktuellen Forschung deutet in diese Richtung. Daraus würde dann erstens folgen, dass wir für diese Tatsache ethisch gesehen in keiner Weise verantwortlich sind, weil sie von der Evolution - einem blinden Vorgang, der keine Richtung hat und keine Ziele verfolgt - von unten in die funktionale Architektur unserer Gehirne und damit auch in unseren Geist einprogrammiert wurde, ohne dass wir daran jemals etwas ändern konnten. Wir sind also nicht im moralischen Sinne schuldig. Die ,evolutionspsychologische Erbsünde’ gibt es nicht. Zweitens jedoch ergibt sich auf der anderen Seite immer dann, wenn wir von dieser Tatsache wissen, eine direkte ethische Verpflichtung, die verschiedenen Mechanismenn der Selbsttäuschung so gut wie irgend möglich zu verstehen, und zwar mit allen Erkenntnismöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, mit allen Formen des epistemischen Handelns gleichzeitig. Wir müssen dabei auch deutlich sehen, dass keineswegs alle Formen der Selbsttäuschung rein biologische bottom-up Prozesse sind: Die gesellschaftliche und kulturelle Dynamik - für die wir als einzelne Menschen eine Mitverantwortung tragen - kann den menschlichen Geist natürlich auch ,von oben’ versklaven, zum Beispiel durch die verschiedensten Weltanschauungen und Ideologien. […].

[…]

Quelle und Resttext:
http://www.philosophie.uni-mainz.de/Date...er_SIR_2013.pdf

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